Die "Wirksamkeit" des Feng Shui

Zum 3. Wohnmedizinischen Symposium

Dieser Text entstand in Vorbereitung auf das 3. Wohnmedizinische Symposium der Hochschule OWL am 08./09. November 2013. Er erklärt Feng Shui als strategischen Ansatz zur Bestimmung der Interaktion zwischen Raum und Mensch.

Warum Feng Shui?

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Feng Shui Schriftzeichen, Peter Fischer, Feng Shui Center Berlin

Können wir als aufgeklärte Westeuropäer Nutzen aus einer alten chinesischen Kulturtechnik ziehen?
Mitte der 90er Jahre war die landläufige Meinung, Feng Shui habe vorwiegend etwas mit Bleikristallen zu tun, die, in der richtigen Ecke aufgehängt, dafür sorgen würden, dass „gute Dinge passieren“. Über dieses Vorurteil und die Tatsache, dass die chinesische Kultur die Herstellung von Glas nie entdeckt hat, muss man heute zum Glück nicht mehr reden. Was aber durchaus erwähnenswert ist: Feng Shui ist auch keine reine „Einrichtungslehre“. Die Sache ist leider etwas komplexer, „leider“, weil es gar nicht so einfach ist, diesem komplexen Gebilde gerecht zu werden. Feng Shui leitet sich, wie alle chinesischen „Wissenschaften“ aus den philosophischen Grundlagen des chinesischen Kulturraums ab. Somit müssten wir uns eigentlich erst einmal mit Daoismus und Konfuzianismus beschäftigen, bevor wir über Feng Shui reden. Ich werde mich daher darauf beschränken diese Verbindung wenigstens sichtbar zu machen und, soweit es geht, praktische Beispiele einfließen lassen.
Im ersten Teil dieses Vortrages werde ich einen Einblick in den kulturellen Hintergrund des Feng Shui geben. Darauf hin werde ich als ein Beispiel für die Terminologie des Feng Shui die Technik der „5 Wandlungsphasen“ darstellen. Dann werden wir das System der „San Cai“, der „3 Entitäten“, als Meta-Ebene erörtern, das eine kybernetische Verknüpfung mehrerer Analyse-Ebenen und damit eine kontextbezogene Gestaltung ermöglicht. Ein besonderer Schwerpunkt wird dabei dem System der „5 Wandlungsphasen“ als Verknüpfung zwischen (chinesischer) Medizin und Raum zukommen. Im Anschluss werde ich dieses Analyse-Modell auf ein einfaches, dafür aber konkretes Beispiel anwenden.

Begriffsklärung

Nehmen wir zuerst eine Begriffsklärung vor. Der Begriff „Feng Shui“ oder auf deutsch „Wind Wasser“ taucht zum ersten Mal im „Zhang Shu“ - dem „Begräbnis Klassiker“ auf, der dem Gelehrten Go Pu (4. Jh.n.Chr.) zugeordnet wird. Um den idealen Ort in der Landschaft zu beschreiben, beschreibt er Wind und Wasser als elementare Kräfte der Natur, deren Interaktion es zu erkennen und zu nutzen gilt. Ziel ist es, den „Wind“ - also eine zu exponierte Position - zu vermeiden („cang feng“ - „den Wind verbergen“) und „das Wasser zu erhalten“ („de shui“) - also sammelnde Einflüsse in der Umgebung zu identifizieren und zu nutzen.
Go Pu beschreibt hier im Rahmen der konfuzianischen Ahnenverehrung die optimale Platzierung eines Grabes. Die Idee ist, einen guten „Wohnort“ für die Geister der Ahnen zu finden, daher kann man schlußfolgern, dass die gleichen Regeln im übertragenen Sinne ebenfalls für Wohnbauten oder ganze Städte gelten: Im „Huang Di Zhai Jing“, dem „Häuser-Klassiker des Gelben Kaisers“, werden die gleichen Kriterien für die Beurteilung von Wohngebäuden herangezogen. Feng Shui erscheint in diesem Kontext erst einmal als eine Standortanalyse. Doch die Anwendung ist keinesfalls an den Außenbereich alleine gebunden. Die gleichen Paradigmen sind auch innerhalb der umbauten Fläche gültig, sie beschreiben eine Relation zwischen Dingen und können daher für die Beurteilung unterschiedlicher Maßstäbe herangezogen werden: für die Platzierung eines Schreibtischs in einem Büro gelten essentiell die gleichen Analysewerkzeuge wie in der Beurteilung des Stadtumfeldes.

Kaiserpalast_vor_Stadt.jpg Das nördliche Tor des chinesischen Kaiserpalast in Beijing

Feng Shui im kaiserlichen China

Doch wie genau muss man sich die konkrete Anwendung von Feng Shui im kaiserlichen China vorstellen? Wie sah die chinesische Baustelle aus? Wer waren die Architekten, Bauleiter, Handwerker? Das dynastische China kannte keine Architekturtheorie im westlichen Sinn und daher auch keine Architekten. Das Wissen über die lokal vorkommenden Materialien und deren Bearbeitung, ebenso wie die Aufgabe der eigentliche Erbauung eines Hauses, lag bei den Handwerkern. Die Entwicklung der handwerklichen Techniken selbst basierten, wie auch bei uns im Westen, letztendlich auf Versuch und Irrtum und wurden zum Großteil innerhalb des Clans weitergegeben. Das Hauptbaumaterial Chinas war Holz. Erstaunlicher Weise entwickelte sich die Holzrahmenkonstruktion mit nicht last-tragenden Wänden schon relativ früh, es sind Beispiele aus dem Zeitraum um 1000 v. Chr. bekannt (Chengdu/Jinsha). Dies, in Verbindung mit der Tatsache, dass die Bäume einer bestimmten Vegetationszone eine Mindestwachstumszeit benötigen, um für die Nutzung als Bauholz verwendet werden zu können, erzeugte einen bestimmten „Modulus“, der durch den maximalen Abstand zwischen den Stützpfeilern, dem „pian“, bestimmt war. Man somit davon ausgehen, dass kleinere Bauten wie „I“-förmige Riegel ohne weitere Planung direkt von den Handwerkern ohne einen zusätzlichen Planer erstellt werden. Erst bei der Planung größerer Objekte mit mehreren Gebäudeteilen entstand der konkrete Bedarf eines weiteren Planers. Dabei war der Übergang zwischen Handwerker, Planer und Feng Shui Experte durchaus fließend. Als derartige „Planer“ waren sowohl Handwerker, als auch angesehene Gelehrte im Beamtenstand bekannt, die ausgewiesene Feng Shui Experten waren (z.B. oben genannter Go Pu). So oder so war es jedoch undenkbar, dass eine Person, dem die Planung eines Hauses übertragen wurde, keine Kenntnisse von Feng Shui besaß. Das mag aus heutiger Sicht verwundern, ist auf der anderen Seite aber nachvollziehbar, da die grundlegenden Philosophien wie z.B. Yin und Yang, 5 Elemente und Qi keine Erfindung des Feng Shui sind, sondern Paradigmen, die dem chinesischen Kulturraum als solchem gemein sind. Wer aber in einem Kulturraum aufwächst, in dem diese Paradigmen zum allgemeinen Kulturgut gehören, kommt nicht umhin, diese Konstrukte auch bei der Planung von Häusern zu verwenden - Realität konnte inefach nicht anders gedacht werden. Es handelt sich bei Feng Shui also lediglich um eine spezifische Anwendung dieser Paradigmen auf die Planung des von Menschenhand erschaffenen Stadt- oder Wohnraumes. Weiter gedacht könnte man sogar die These aufstellen, dass somit im Feng Shui die chinesische Architekturtheorie codiert ist. Aber das wäre ein anderes Thema und vortreffliches Forschungsthema.

Feng Shui & Architektur?

Meine grundlegende Definition lautet an dieser Stelle erst einmal: Feng Shui beschreibt die Interaktion zwischen Mensch und Raum. Ich halte fest, dass der Feng Shui Experte im kaiserlichen China mit Aufgaben betreut war, die große Überschneidungen mit den Tätigkeitsbereichen des heutigen Architekten, Garten-, Landschafts- oder Stadtplaner hatten.
Worin liegt aber die genuine Qualität des Feng Shui? Die Theorien zu Architektur und Landschaftsplanung sind auch im Westen hinlänglich bekannt, was ist also aus unserer Sicht „neu“ an Feng Shui? Nun, in all den Theorien, die wir als „westliche“ Kulturen entwickelt haben, gibt es einen „blinden Fleck“. Dieser zeigt sich um so stärker, als wir es mit dynamischen Situationen zu tun bekommen. Ein schönes Beispiel dafür ist das Bauen eines Hauses. Auf der einen Seite steht der Architekt / Gestalter / Planer mit seiner idealen Vorstellung eines Hauses. Auf der anderen Seite die Realität. Das reicht von der Lage des Gebäudes, über die speziellen Wünsche des Kunden bis hin zu den Fähigkeiten und Unfähigkeiten der beteiligten Handwerker.

Plan und Realität

Das Dilemma beginnt, sobald der „Plan“ auf die „Realität“ trifft. Wo ich zuerst in einer Theorie das ideale Haus erdenke, kann dieser Plan zwangsläufig nur noch scheitern, denn die Realität erzeugt eine „Reibung“ (im Sinne von Clausewitz), der der beste Plan nicht gewachsen ist. Da die Idee und die Planung unserer „inneren Vision“ entspringt, neigen wir dazu, dies sehr schnell als persönliches Scheitern wahrzunehmen. Dies ist vor allem eine Erfahrung, die Berufseinsteiger machen, und dies ist nicht nur in der Architektur der Fall, sondern in allen kreativen Berufen. Welchen Trost bieten uns unsere Mentoren? Nun, sie können zum einen das Genie des Gestalters beschwören, zum anderen die „Erfahrung“, die es ermöglicht, mit der Realität umzugehen. Aber wie diese Qualität genau aussieht und wie sie erworben werden kann, entzieht sich der Theorie, „sie kann nicht gedacht werden“ (F. Jullien 1996, „Über die Wirksamkeit“ ).
Das gleiche gilt für kreative Prozesse: Interessanter Weise haben wir keine einheitliche Theorie, die den Umgang mit kreativen Prozessen erklärt, jeder hat seine eigene Vorgehensweise, es zirkulieren Videos von erwachsenen Architekten, die Papier durch die Luft werfen und daraus Inspirationen gewinnen. Wir spüren irgendwie, dass Kreativität im Team am Besten gelingt, aber was passieren muss, damit das Team „zusammen spielen kann“, ist nicht klar, kann nicht benannt werden. Damit kann dieser Prozess nicht gezielt herbei geführt werden und bleibt dem Zufall überlassen.

Feng Shui: ein strategischer Ansatz der den kreativen Prozeß einleitet

Genau an dieser Stelle hat Feng Shui uns etwas zu bieten: das daoistische Prinzip „De“ oder die „Wirksamkeit“. Diese „Wirksamkeit“ ist ein zentrales Konzept in der chinesischen Kultur und ist sogar in seiner pervertierten Form als „Legalismus“ zur Staatsform aufgestiegen, die es dem „Gelben Kaiser“ 221 v. Chr. ermöglichte, das chinesische Reich unter sich zu vereinen und die Qin-Dynastie zu gründen.
Das chinesische Zeichen für die „Wirkkraft“ ist das Zeichen „De“. Es besteht aus dem Radikal für „Fußabdruck“ oder „gehen“, dem Radikal für „Auge“ gefolgt von „Gerade“ und „Herz“. Man könnte es mit einiger interpretatorischer Freiheit übersetzen als: „Die Dinge so sehen, wie sie wirklich sind“. Es ist das gleiche Zeichen, das uns im „Dao De Jing“ (Tao Te King) - dem „Weg Wirkkraft Klassiker“ von Laotse begegnet. „De“ ist die Wirkkraft, mit der sich das Dao - das „All Eine“ - in der Welt ausdrückt. Es ist die Kraft, die die Jahreszeiten dazu bringt einander abzuwechseln und die Pflanzen zum wachsen, blühen und vergehen bringt.
Dieses Bild ist interessant: es schlägt vor, es reiche, „die Dinge so zu sehen wie sie tatsächlich sind“ um ein „wirksames Handeln“ enstehen zu lassen. Die Pflanzen wachsen „von alleine“ - im Sinne von „sie greifen auf die ursprüngliche Kraft des Dao zurück“, weil sie das tun, was der Kontext gebietet: es ist einfach nicht effektiv, im Winter zu blühen. Durch die Orientierung am Kontext entsteht eine maximale Effizienz und damit ein „müheloses Handeln“. Auf den Gestaltungsprozess übertragen ist dieses Vorgehen im wahrsten Sinne des Wortes strategisch: wir halten uns nicht mit einem festen Plan oder einer festen Gestaltungsidee auf, sondern lassen sie aus dem Kontext heraus enstehen. An Stelle des Plans tritt eine möglichst umfassende Analyse des Kontextes. Aus dieser Analyse entsteht zwangsläufig eine Antizipation: „Was wird wohl als nächstes passieren? Welches Potential ergibt sich aus dieser Situation? Wohin wird die Situation von sich aus gravitieren?“.
So entsteht die Gestaltung quasi „von ganz alleine“. Für die Planung eines EFH bedeutet das: wenn ich alle Faktoren des Kontext kenne, wie zum Beispiel: die Klimaeinflüsse, Bedürfnisse und Stilverständnis des Kunden, Abstandsflächen, Bauauflagen und das Budget, entsteht das Haus eigentlich von ganz alleine. Denn es gibt realistischer Weise nicht mehr viele Alternativen. Der Kontext gibt sozusagen die Gestaltung vor. Das klingt etwas fatalistisch und sehr nach dem starren europäischen „Kontextualismus“, bedeutet aber nicht langweilig oder unkreativ zu bauen. Im Gegenteil: das Prinzip „die Möglichkeiten zu beschränken“ ist anerkannter Weise eine Spielart, um den kreativen Prozess ins Laufen zu bringen. Der Unterschied zum starren unflexibelen Kontextualismus ist jedoch: als Gestalter kann ich mein kreatives Genie gezielt in die Freiräume einbringen, die dieser Kontext eröffnet. Meine Aufgabe ist es, die „weißen Flecken“ in einer dem Kontext zuträglichen Art und Weise zu füllen. Und das erspart mir die Frustration einer Situation, in der mein idealer Plan an der Realität zerschellt. Es garantiert eine Kundenzufriedenheit, denn die Bedürfnisse des Kunden bilden einen Teil der Planungsgrundlage. Es garantiert ein effizientes Gebäude, da die Umweltbedingungen berücksichtigt werden. Und es erlaubt mir als Planer, mich sinnvoll in den kreativen Prozess einzubringen, da ja auch ich als Gestalter Teil des Prozesses bin. In einem Team kann der „angemessenste“ Entwurf für den vorliegenden Kontext bestimmt werden.
Durch die Integration des Konzepts der „Wirksamkeit“ können wir unsere Definition von Feng Shui wie folgt erweitern:
Feng Shui beschäftigt sich mit der möglichst objektiven und präzisen Erfassung des Kontexts von Mensch, Zeit und Raum. Es stellt ein Paradigma dar, dass die Wirksamkeit eines Ortes beschreibt. Es handelt sich um ein Paradigma und keine Theorie, da sich die einzelnen, im Kontext wirksamen Faktoren im zeitlichen Verlauf beständig verändern und sich dabei gegenseitig beeinflussen was dieses Pradigma von starren westlichen Kontextualismus unterscheidet. Jede Feng Shui Analyse eines räumlichen Kontextes kann also nur eine Momentaufnahme eines Prozesses zwischen Mensch, Raum und Zeit sein. Eine daraus entstehende Empfehlung zur räumlichen Gestaltung ist also als impulsgebend für einen spezifischen Prozess zu sehen und nur so lange gültig, wie die einzelnen Faktoren Bestand haben. Dabei steigt die Effektivität dieses Paradigmas proportional zur Fähigkeit des Prognoseerstellers, die einzelnen Datensätze kybernetisch zu verknüpfen, also die Wechselbeziehungen der einzelnen Faktoren in Betracht zu ziehen.

fs_paradigma_Coal.png Feng Shui Paradigma Transparent

Die Analyseebenen des Feng Shui

Um zu verstehen, wie Feng Shui dabei vorgeht, werden wir uns zuerst mit einzelnen Analysetechniken auseinander setzen, um dann im nächsten Schritt zu verstehen, wie verschiedene Analyseebenen in eine Metaebene münden, in der die gegenseitige Wechselwirkung beschreibbar wird. Feng Shui verfügt über eine große Anzahl an Analysemethoden, mir ist nicht bekannt, dass zum heutigen Tage eine vollständige Liste existiert. Das wäre auch recht sinnlos, denn der Kontext als solcher ist ein offenes System und heißt jedes Analysemittel, das zu einer verwendbaren Aussage führt, willkommen. Sogar vollkommen fremde Methoden wie das Rutengehen oder die Elektrobiologie sind reibungslos integrierbar. Ich treffe also an dieser Stelle eine schmale Auswahl. Berücksichtigen Sie dabei, dass es sich bei Feng Shui um eine „Protowissenschaft“ handelt. Daher sind in den Beschreibungen noch viele animistische Elemente enthalten. Dies ist aber einem prozesshaften Verständnis von Raum und Natur eher zuträglich. Trotzdem müssen wir die streng akademische „Brille“ erst einmal zur Seite legen und uns auf diese ganz andere Terminologie einlassen.

4_tiere.jpg

"Si Ling" / Die vier Tiere des Landschafts Feng-Shui:

An einem beliebigen Aufenthaltsort ist es günstig, ein klares „Vorne“ und „Hinten“ zu erzeugen ebenso wie ein „Rechts“ und „Links“. Hinten suchen wir die „Schildkröte“: sie steht für eine geschützte Rückenposition. Vorne suchen wir den „roten Vogel“, dieser symbolisiert eine offene Fläche, die eine angenehme Sichtachse öffnet. Links und Rechts befinden sich „Drache“ und „Tiger“, zwei seitliche Begrenzungen ähnlich einem Lehnstuhl, wobei die „Drachen“-Seite etwas höher seien sollte. Was ist das Ziel dieses Modelles? Diese Anordnung schafft eine Orientierungsfähigkeit. Wenn wir uns innerhalb einer derartigen Anordnung bewegen, ist es nahezu unmöglich uns zu verlaufen, da wir immer Landmarken haben, an denen wir uns orientieren können. Als Positivbeispiel können wir das Sony Center in Berlin heranziehen, das trotz einer schwierigen dreieckigen Grundform durch die Bebauung ein klares „Vorne“ und „Hinten“ entstehen lässt. Ein dichter Riegel grenzt die Fläche „Hinten“ zur Philharmonie hin ab, der Innenhof öffnet sich Richtung DB-Tower/Potsdamer Platz. Dadurch entsteht eine klare Orientierung. Nur sehr wenige Personen „verirren“ sich in den hinteren Teil des Gebäudes, der reiner Bürotrakt ist. Der Innenhof des Sony-Center selbst beeindruckt durch eine aufwendige Dachkonstruktion die dem Mount Fuji nachgebildet ist. Disneylandarchiktektur? So mag man diese Architektur schmähen. Aber das Sonycenter wird sehr gut angenommen und gilt mittlerweile schon als Synonym für den (nicht mehr vorhandenen) Potsdamer Platz. Als Negativbeispiel können wir die „Galeries Lafayettes“ von Jean Nouvel in Berlin/Friedrichstraße heranziehen. Die Verkaufsflächen sind kreisförmig um einen Trichter herum angeordnet, ab dem ersten Obergeschoß wird die Orientierungsfähigkeit immer stärker herabgesetzt, da keine „Landmarken“ existieren, sogar die Rolltreppen die zu den Geschossen führen, verbergen sich. So bewegt man sich auf einer runden Bahn um einen „Glastrichter“ und sucht nach dem Ausgang.

BSP_Qi_Fluss.png Darstellung des Qi-Fluss in einem Grundriss

Qi-Fluss

Im Feng Shui Kontext beschreiben wir die Art und Weise, in der der Raum unsere Wahrnehmung lenkt, gerne als „Qi-Fluss“. Wir unterscheiden dabei zwischen „Qi-Fluss“, einer „Bewegungsachse“, und der „Qi-Sammlung“, einem „Ruhebereich“. Ein optimaler Raum verfügt über ein angemessenes Verhältnis zwischen Fluss und Sammlung von Qi. Entsteht in einer Fläche ein Übermaß an „Qi-Fluss“ wird sie sehr unruhig. Verfügt sie über ein Übermaß an „Qi-Sammlung“, wird sie als sehr drückend wahrgenommen. Denken Sie an einen stürmischen Tag auf dem offenen Meer oder an den Gipfel eines Berges im Gegensatz zum Aufenthalt unter Tage in einer kleinen Höhle. Beides sind Extreme und bieten nur über einen kurzen Zeitraum ein „interessantes“ Raumgefühl. Im Wohnumfeld wählen wir daher Aufenthaltsplätze bevorzugt in Flächen, die ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Qi-Fluss und -Sammlung bieten. Dies führte auf obigen Grundriss dazu, dass der Essplatz in der Küche von den Bewohnern als Ort mit der höchsten Aufenthaltsqualität („am kuscheligsten“) wahrgenommen wurde - eine wenig effiziente „emotionale“ Nutzung der über 100qm großen Fläche.

5_Elemente_Kohle-01.png 5 Elemente Diagramm

„Wu Xing“, Die „Fünf Wandlungsphasen“

Grob gesagt orientiert sich das Modell der Fünf Wandlungsphasen am Ablauf der Jahreszeiten. So entspricht die Wandlungsphase „Holz“ dem Frühling, „Feuer“ dem Sommer, „Erde“ der Zeit der Reife (Spätsommer), „Metall“ der Erntezeit und dem Herbst und „Wasser“ dem Winter. Aus diesem jahreszeitlichen Bezug werden Assoziationsketten gebildet.
Nehmen wir als Beispiel die Wandlungsphase „Metall“. Ihre Jahreszeit ist der Herbst, die Zeit, in der das Klima schon wieder kühler wird. Da die Bäume ihre Blätter abgeworfen haben und die Luft abkühlt und weniger Luftfeuchtigkeit enthält, kann man sehr weit und klar sehen. Jede Unperfektion z.B. an einer Fassade tritt sehr klar zu Tage. Wir bereiten uns auf den Winter vor, machen unser Haus „winterfest“ und müssen in unserem Handeln zwischen „wichtig“ und „unwichtig“ unterscheiden. Strukturiertes, klares Vorgehen ist jetzt wichtig. Die Natur sammelt noch einmal alle Kräfte und speichert sie, um den langen kalten Winter zu überleben. Zusätzlich schwingt ein Abschied vom Sommer und ein latente Traurigkeit mit. Die Natur erscheint in dieser Jahreszeit nach einem letzten Aufbäumen in blassen, kalten Farben, die Sonne steht nicht mehr ganz so hoch, der Wind wird schneidend.
Wenn Sie diesen Text lesen, entsteht ein bestimmtes Gefühl, dass sie mit ihrem eigenen emotionalen Erleben dieser Jahreszeit in Verbindung bringt. Der Chinese wendet an dieser Stelle das „Resonanz-Prinzip“ an und fragt: gibt es nicht auch Menschen, die so sind „wie der Herbst“? Die also die „Resonanz“ des Herbstes in uns entstehen lassen? Gibt es nicht auch Räume oder Häuser, die sich „herbstlich“ anfühlen? Denken Sie an die Gestaltung des „Bauhaus“. „Die Form folgt der Funktion“. Da findet eine große Wertschätzung statt, eine Effizienz, eine etwas kühle Ästhetik, ein hohe Präzision. Oder haben Sie schon einmal eines dieser „magischen“ Produkte in der Hand gehalten, das von einem Apfel geziert wird? Hier haben wir das Metall in nahezu reiner Form. Und wie kann man sich über den ersten Kratzer auf einem dieser hochästhetischen Objekte ärgern. Und es ist unmöglich ihn zu übersehen, den das Metall ist präzise und unerbittlich: Es verzeiht keinen noch so kleinen Makel.

Die Verbindung zum menschlichen Körper

Wie sie sehen, eignet sich das Modell der 5 Wandlungsphasen vortrefflich, um emotionale Zustände zu beschreiben. Die Beschreibung dieser Emotionen erfolgt durch Bilder aus der Natur und fragt nach einer Resonanz: Wer oder was erzeugt eine Resonanz in uns, die dem Herbst entspricht? Der nächste logische Schritt wäre zu fragen: „Ist das gut für uns? Brauchen wir diese Resonanz?“ oder wäre nicht eine ganz andere Resonanz wie das zu Bewegung drängende Holz oder das fröhliche Feuer für uns viel besser? Und was heißt im individuellen Fall „besser“? „Besser“ heißt in diesem Fall, dass wir uns gezielt einem Resonanzprinzip aussetzen können, um in ein inneres Gleichgewicht zu kommen. Aber die Relation geht noch weiter, es gibt eine tiefe Beziehung zur chinesischen Medizin. So können wir im Herbst auch verschiedene gesundheitliche Auffälligkeiten beobachten: Der kalte Wind trocknet Haut, Lunge sowie Schleimhäute aus und kühlt sie. Dadurch können Krankheitserreger eindringen, Atemwegserkrankungen sowie Hauterkrankungen können entstehen. Trockene Haut reißt sehr leicht. Dies ist eine Erfahrung, die wir vor allem im fortgeschrittenen Alter machen, was der Lebensphase „Metall“ entspricht, wenn unsere Haut nicht mehr genug Fett produziert und die Feuchtigkeit nicht mehr so gut halten kann. Gleichzeitig sind mit diesem Altersabschnitt bestimmte entwicklungspsychologische Prozesse verbunden: Auf der emotionalen Ebene findet ein Rückblick statt, wir bewerten, was in der Vergangenheit passiert ist, was gut gegangen ist, was wir lieber nicht wiederholen möchten. Aus dieser Lebenserfahrung ziehen wir ein Selbstwertgefühl und aus dieser entsteht im positiven Fall eine natürliche Autorität.
Feng Shui denkt also eine Verbindung zwischen Raum, Zeit, Mensch und Medizin. An welcher Stelle befindet sich dabei die Schnittstelle zwischen Medizin, Raum und Mensch?
Die chinesische Medizin kennt drei verschiedene Krankheitsursachen (s. Heiner Frühauf, 2010, „Jede Krankheit kommt vom Herzen“): „äußere Faktoren“ (z.B.: Klima), „innere Faktoren“ (z.B.: Emotionen) und „weder innere noch äußere Faktoren“ (wie Krieg, Unfall und dergleichen).
Der klimatische Einfluss der Jahreszeit Herbst wäre dabei ein „äußerer Faktor“, beschrieben als „pathogener Faktor Wind“ in Kombination mit dem „pathogenen Faktor Kälte“. Die Möblierung im Bauhausstil wäre hingegen ein „innerer Faktor“, weil sie keine tatsächliche Kälte erzeugt, sondern diese als Gefühl im Menschen entstehen lässt. Die „inneren Faktoren“ beschreiben also unsere Gefühle und folgern aus zu hohen Einseitigkeiten psychosomatische Prozesse. Ein „metallischer Raum“ erzeugt ein „kühles Gefühl“ in uns, was uns unter Umständen dazu bringt, weniger zu trinken. Durch die entstehende Dehydrierung entstehen die gleichen Symptome, die den „Metall-Krankheiten“ zugeordnet werden. Ist dies zwingend in jedem Fall so? Nein. Denn es ist auch der Fall vorstellbar, in dem eine „emotionale Imbalance“ (z.B.: überbordende Emotionen, „Feuer“) durch das metallische Umfeld ausgeglichen wird. Aber: es stellt die Potentialität des Raumes als mögliche psychosomatische Interaktion dar. Die westliche Umweltpsychologie geht recht ähnlich vor nur ist sie symptomfixiert („Rote Wände erhöhen des Blutdruck“) und hat kein Modell, das in ähnlicher Weise den Kontext mit medizinischen Auswirkungen verbinden kann. Das ist bei Feng Shui jedoch der Fall: die grundlegende Terminologie, wie Yin&Yang und die 5 Elemente, ist die gleiche wie in der klassischen chinesischen Medizin. Die Verbindung zwischen räumlichen Faktoren und gesundheitlichen Faktoren gelingt dabei ganz leicht und fließend. Dabei wird in der Bewertung des Umfeldes penibel zwischen Umweltfaktoren und psychosomatischen Faktoren unterschieden. Das führt uns als Gestalter zu einer Sichtweise, bei der ein bestimmter Stil kein allgemeingültiges Ideal beschreibt sondern ein individuelles energetisches Bedürfnis. Es wäre also fatal, einem Kunden einen bestimmten Stil gegen seinen Willen aufzudrängen, aus Sicht des Feng Shui könnte dies sogar psychische bis hin zu gesundheitlichen Konsequenzen haben...

San_Cai_Dipper.jpg San Cai - HImmel, Erde und Mensch

Ein Metaschema - die "San Cai" - "Drei Wirkkräfte"

Wie sie aus diesem kleinen Exkurs schon entnehmen können, ist Feng Shui recht komplex und die Verbindung verschiedener Analyseebenen schwindelerregend, wir machen noch nicht einmal vor medizinischen Einflüssen halt. Um einen beliebigen Kontext einerseits möglichst vollständig und vielschichtig zu erfassen und andererseits wieder beherrschbar zu machen, bedient sich Feng Shui gerne des „Meta-Schemas“ der „San Cai“ oder der „Drei Entitäten“. Diese Entitäten lauten: Tian (Himmel), Di (Erde) und Ren (Mensch). Himmel und Erde sind dabei als Gegenpole zu denken, die den Menschen, der hier stellvertretend für die gesamte Schöpfung steht, erzeugen. Alle phänomenologischen Erscheinungen lassen sich einer dieser drei Entitäten zuordnen.
天„Tian“ / Himmel: Der zeitliche Kontext - etwa die berühmten Waschbetonplatten der 70er. In dieser Kategorie landen dann auch immer Dinge, die wir letztendlich nicht erklären können.
人 „Ren“ / Mensch: Der psychologisch, kulturelle und soziale Kontext.
地 „Di“ / Erde: Der räumliche Kontext.

Zur richtigen Zeit am richtigen Ort das Richtige tun

Eine Situation gilt erst dann als vollständig beschrieben, wenn alle drei Ebenen erfasst sind. Man könnte also sagen: Feng Shui bedeutet am richtigen Ort zur richtigen Zeit das Richtige zu tun.
Zusätzlich können die einzelnen Entitäten weiter unterteilt werden. So ist es zum Beispiel möglich zusätzlich zwischen Yin („formbildend“) und Yang („impulsgebend“) zu unterscheiden.
Ein Beispiel: Um es einfach zu halten, betreten wir das im Bauhaus-Stil erbaute Ein-Familien-Haus eines Bauhaus-Adepten, der sich bis zum letzten Detail im „Bauhausstil“ eingerichtet hat. Wie können wir diesen Kontext mit dem Paradigma von „Himmel“, „Erde“ und „Mensch“ beschreiben?
Die Anwendung der „San Cai“ ermöglicht somit, ein vielschichtiges Bild der einzelnen Einflüsse, die auf die Situation einwirken, darzustellen. Dabei ist dieses Paradigma natürlich nicht auf die Anwendung in einem räumlichen Kontext begrenzt - es stellt vielmehr das prozesshafte Denken des gesamten chinesischen/asiatischen Kulturraums dar. Es eignet sich sehr gut, um eine Vielzahl an Informationen in einen Analyseprozess zu integrieren, einzuordnen und gegeneinander abzugrenzen. Die einzelnen Ebenen werden dabei nicht als absolut und feststehend begriffen, sondern als verschiedene Vektoren in einem Prozess.
Dabei ist dieses Paradigma sehr potent: wir können in obigem Beispiel über die Betrachtung des Raumes eine Vermutung über die Persönlichkeit des Bewohners anstellen, können auf Grund der Bedürfnislage des Bewohners eine Justierung vornehmen und in die Gestaltung des Raumes zurückkehren. Als Gestalter erlaubt uns diese Vorgehensweise uns selbst als Teil des Gestaltungsprozesses zu betrachten und persönliche Vorlieben hinter uns zu lassen, um entsprechend der energetischen Bedürfnisse eines individuellen Kunden zu handeln. Gleichzeitig bedeutet es aber nicht, das gestalterische Genie in Fesseln zu legen - wo sich der entsprechende Kontext öffnet, ist der „große Wurf“ durchaus von Nöten: denken wir zum Beispiel an die wunderbaren Solitäre von Zarah Hadid. Doch alles folgt der Angemessenheit: Was für eine öffentliche Bibliothek ein beeindruckendes Raumerlebnis eröffnet (dem man relativ kurze Zeit ausgesetzt ist), wird bei einem Wohnhaus von selbiger Architektin schnell eine „Love it or Leave it“- Angelegenheit.

Die "kybernetische Verknüpfung"

Diese netzartige, kybernetische Verkettung unterschiedlicher Einflüsse aus dem Kontext heraus ist es, die Feng Shui ausmacht. Dabei ist diese Herangehensweise nicht mit dem Kontextualismus zu verwechseln. Denn dieser sieht einzelne Faktoren als unumstößlich und unveränderbar an oder gleitet in einen Relativismus ab. Die kybernetische Verknüpfung der „Wirksamkeit“ beschreibt dabei vielmehr die sich ständig veränderlichen Faktoren eines Prozesses, ihre Potentialität und welche Maßnahmen getroffen werden müssen, um den Prozess in eine bestimmte Richtung zu lenken. Dieses Modell ist dabei in der Lage, auf hochdynamische Prozesse zu reagieren: verändert sich ein Faktor in diesem Prozess, werden sofort alle möglichen Wechselwirkungen in Betracht gezogen und es entsteht eine neue Handlungsanweisung.
Sollte diese Handlungsanweisung auf Grund ungenügender Informationen scheitern, steht nicht das persönliche Scheitern im Vordergrund: wir hatten einfach nicht genug Informationen. Da wir im „zweiten Versuch“ über die „fehlenden Informationen“ verfügen, haben wir durch unser „Scheitern“ einen „strategischen Vorteil“ erreicht. So bleibt uns das Gefühl des persönlichen Scheitern als „Regelfall“ erspart.

Der Nutzen des Feng Shui

Der Nutzen des Feng Shui Paradigma liegt für die „westliche Welt“ - mit ihren tiefen Wurzeln in den antiken griechischen Philosophien - damit in einer gewaltig erweiterten Sichtweise. Diese befreit uns aus dem griechisch-römisch gedachten Dualismus von Idealbildung und Realtiät. Durch eine stärkere Hinwendung zum Kontext hin ermöglicht es uns einen weniger idealtypischen oder ich-bezogenen Ansatz in der Gestaltung und damit ein effektiveres und humaneres Endprodukt. Darüber hinaus ermächtigt uns dieses Paradigma, allgemein besser mit hochdynamischen Prozessen im Raum umzugehen und damit gezielt eine allgemeine strategische Fähigkeit zu erwerben, die bisher nur als „Genius“ oder „Lebens- oder Berufserfahrung“ gedacht werden konnte.