Feng Shui am Moritzplatz

Feng Shui Treffen 4.9.2018 - Lesezeit 10 Min.
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Berlin ist für einen Feng-Shui-Interessierten ein Faszinosum: neben der schieren Größe - einige nennen Berlin die „einzige Großstadt Deutschlands“ - herrscht hier Diversität und Abwechslung wie nirgendwo anders - und das nicht nur im Night-Life. Berlin ist eine Stadt mit vielen Gesichtern und abrupt wechselnden Atmosphären. Hippe „In-Viertel“ liegen direkt neben fast schon vergessenen historischen Baugruppen, die sich im tiefen Dornröschenschlaf zu befinden scheinen. Unterschiedlichste Felder und Atmosphären folgen auf einander, zeitliche und historische Bezüge wechseln sich in atemberaubender Geschwindigkeit ab.

Der Moritzplatz kennzeichnet einen solchen Bereich in Berlin: hier beginnt der fast schon berüchtigte Abschnitt der Oranienstraße der sich über den Oranienplatz und die Mariannenstraße bis zum U-Görlitzer Platz erstreckt und seinen eigenen Teil zu den „Kreuzberger Nächten“ beigetragen hat. 2006 noch in der Berliner Morgenpost als „Unort“ beschrieben, hat er in den letzten Jahren durch das Projekt „Aufbau-Haus“, die Filiale der Firma „Modulor“, der „design akademie berlin“ und vor allem durch das „Urban Gardening Project“ Prinzessinengärten eine starke Aufwertung erfahren.

Grund genug, sich hier zum Feng-Shui-Treffen zusammen zu finden, den Alltag hinter sich zu lassen und sich auf ein körperlich-emotionales Erleben einzulassen. Aber zuerst ein paar geschichtliche Hintergründe zum "kognitiven Konstruieren", die Beschreibung unseres Spaziergangs folgt gegen Ende des Artikels.

Das Köpenicker Feld

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Das Köpenicker Feld (in der Karte unten mittig, braun markiert) wurde 1261 von der Stadt Cölln erworben, bald danach siedelten sich hier Bauern an. Im 30jährigen Krieg wurde das Gebiet vollständig abgebrandt.

Der Moritzplatz entstand 1841 im Rahmen der Stadtentwicklung des „Köpenicker Viertel“/„Luisenstadt“, das um die Zollmauer und den Landwehrkanal erweitert wurde. Mit der industriellen Revolution entwickelte sich hier ein Viertel mit typischer Mischung von Wohn- und Gewerbeeinheiten. Um 1910 gehörte das Köpenicker Viertel zu den am dichtesten besiedelten Gebieten von Berlin. Direkt am Moritzplatz existierten große Tanz-Cafés und Varietés, eine jüdische Gemeinde und das Warenhaus Wertheim. Während der Luftangriffe des 2.Weltkriegs wurde der Bereich umfassend zerstört, nach dem Krieg verhinderte die Planung der Süd-Tangente (A106) sehr lange die Wiederbebauung weiter Teile des Viertels. Der Moritzplatz ist damit ein Hologramm der Berliner Geschichte wie kaum ein anderer Platz.

Kaufhaus Wertheim / Prinzessinengärten

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Der Moritzplatz avancierte um die Jahrhundertwende zu einem der beliebtesten Orte Berlins, hier gab es zahllose Tanz- und Vergnügungsetablissements, die Familie Wertheim eröffnete 1894 in der Oranienstraße 53/54 das erste Warenhaus. 1913 wagte Wertheim mit dem Warenhaus den Sprung in die Oranienstraße 149-154, auf die südöstliche Ecke des Moritzplatzes, der Ort, an dem sich heute die Prinzessinnengärten befinden.

Zur gleichen Zeit hatte sich der Konkurrent Wertheims, Rudolph Karstadt, am Hermannplatz etwas ganz besonderes einfallen lassen: ein Kaufhaus mit direkter Anbindung an die U-Bahn. Dies setze Wertheim unter Aufbringung erheblicher finanzieller Mittel auch am Moritzplatz durch, was letztendlich der Grund für 8 Ab-und Zugänge zur U-Bahn ist, die sich bis heute hier befinden.

Die U8, die bis heute hier verläuft, war ursprünglich vom Kottbusser Tor unter der Dresdner Straße und Oranienplatz hindurch zur heutigen Heinrich-Heine-Straße geplant. Angeblich 5 Millionen Reichsmark soll sich Wertheim die „Westkurve“ der U8 kosten haben lassen. Da die Bauarbeiten unter der Dresdner Straße und Oranienplatz aber bereits fortgeschritten waren, entstand unter den Bahnsteigen der U8 eine zweite Ebene mit über 1000qm Fläche.

Für den „Generalbauinspekteur der Reichshauptstadt“, Albert Speer, war dies immer noch zu klein gedacht: er wollte die Fläche für eine unterirdische S-Bahn zwischen Anhalter und Görlitzer Bahnhof nutzen. Wenn man aufmerksam durch die Verteilergeschosse geht, kann man heute noch sehen, wo sich die Abgänge zu den Tiefbahnsteigen befinden.

Das Warenhaus Wertheim wurde wie viele andere Gebäude am 3. Februar 1945 während des größten Luftangriffs des 2. Weltkriegs auf die Stadt Berlin zerstört.

Otto-Suhr-Siedlung

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Berlin, Feng Shui, Moritzplatz, Prinzessinengärten, Otto-Suhr-Siedlung, St.Jacobi-Kirche, © Feng Shui Center Berlin, Peter Fischer

Nordwestlich des Moritzplatz befindet sich die Otto-Suhr-Siedlung, benannt nach dem ehemaligen Oberbürgermeister Berlins. Sie wurde 1956-1960 beidseitig der Alexandrinenstraße zwischen Stallschreiberstraße und Oranienstraße direkt an der Sektorengrenze entlang der Stallschreiber Str. erbaut. Dabei wurde auch der nach dem Krieg als „Aufschüttungsgelände“ genutzte Waldeckpark, der im Nordwesten direkt an den Moritzplatz angrenzte, überbaut.

In der Nachkriegszeit bestand extreme Wohnungsnot, nach der Sperrstunde durfte niemand mehr auf der Straße sein, in Hauseingängen und Kellern nächtigende Flüchtlinge waren eher Normalität. Da Finanzhilfen des Bundes und der Marshall-Plan noch nicht griffen, dauerte es bis 1956, bevor hier das erste Sozialprojekt Berlins erbaut wurde. Während man in späteren Jahren einfach entlang der Straßen die typische Berliner Blockbebauung wieder schloss, versuchte man hier noch raumbildend zu planen. So entstand eine extrem aufgelockerte Bebauung die das Ideal der „Gartenstadt“ verfolgte und von einer Nachbarschaft von 4.000-5.000 Menschen ausging. Die Wohnbauten wurden so gesetzt, dass großzügige Innenhöfe mit Aufenthaltsqualität entstehen sollten. Obwohl die Otto-Suhr-Siedlung verschiedene „Nachverdichtungen“ erfahren hat, sind diese noch deutlich wahrnehmbar.

Durch die Bebauung des Mauerstreifens im Bereich Stallschreiberstraße schließt sich heute das Stadtgebiet langsam wieder. Auf der einen Seite die aufgelockerte, fast dörfliche Atmosphäre der Otto-Suhr-Siedlung, auf der anderen Seite die brutale Verdichtung der Neubausiedlung Stallschreiberstraße. Beide Planungen basieren argumentativ auf der „Wohnungsnot“ und könnten doch in Ihrer Durchführung nicht unterschiedlicher sein, weder was die Verdichtung noch was die Quadratmeterpreise angeht.

St.-Jacobi-Kirche

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Feng Shui Spaziergang Berlin 2018, St. Jacobi Kirche, Luisenstadt,, © Peter Fischer, Feng Shui Center Berlin

Südlich der Otto-Suhr-Siedlung, auf der anderen Seite der Oranienstraßegelegen, befindet sich ein besonderes Kleinod. Nach Plänen des „Architekten des Königs“ Friedrich August Stüler wurde hier die evangelische St.-Jacobi-Kirche(1844–1845) im Stile einer altchristlichen Basilika errichtet. Um die Jahrhundertwende war auch die Fläche im rückwärtigen Teil der Kirche, entlang der Jacobistrasse bebaut. Während des Krieges wurde auch die Jacobikirche zum größten Teil zerstört und von 1953-1957 wieder aufgebaut, die Fläche zur Ritterstraße hin blieb dabei weitestgehend begrünt.

Aufbau-Haus

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Berlin, Feng Shui, Moritzplatz, Prinzessinengärten, Otto-Suhr-Siedlung, St.Jacobi-Kirche, © Feng Shui Center Berlin, Peter Fischer

Dort wo heute das Aufbau-Haus mit der Firma Modulor, der Aufbau Verlagsgruppe, dem Theater Aufbau Kreuzberg, der Buchhandlung am Moritzplatz steht, wurde 1872 der Synagogenverein „Luisenstädtischer Bruderverein Ahawas Reim“ gegründet. Hier begrüßt uns heute ein emotionsfreier Zweckbau aus Sichtbeton. Der Hinterhof: einfach industriell. Im südlichen Bereich des Gebäudes, der sich zur Prinzenstraße hin orientiert, wird der Verkehrslärm durch die schallharten Oberflächen  vervielfacht. Welch Unterschied zu „Just Music“ im Elsnerhaus, dass nur wenige Meter entfernt am Rande des historischen Zeitungsviertels liegt.

Feng-Shui

Als Feng-Shui-affine Stadtmenschen sind wir mit der Wahrnehmung von Stadt beschäftigt, damit, wie die Stadtlandschaft auf uns einwirkt und: immer wieder auf der Suche nach Inseln der Ruhe in denen wir regenerieren können, vielleicht einfach nur tief durchatmen, unter Umständen sogar QiGong oder TaiChiChuan machen können.

Im Umfeld des Moritzplatzes haben wir in unserem Stadtspaziergang daher den Fokus auf vier Flächen gelegt:

  • Die Innenhöfe der Otto-Suhr-Siedlung
  • Die rückwärtige Fläche der St.-Jacobi-Kirche in Richtung Ritterstraße
  • Den Innenhof des Aufbau-Hauses
  • Die Prinzessinnengärten
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Die merkwürdigste Stimmung herrschte sicherlich in den Innenbereichen der Otto-Suhr-Siedlung. Obwohl hier große, umfassende Ruhe herrschte, konnten wir diese nicht als einladend wahrnehmen. Es herrschte fast „Grabes-Stille“, als ob die Bombardierung und Nachkriegszeit hier noch deutlich spürbar wäre. Wenn keine modernen KFZ auf den Parkplätzen gestanden hätten, es hätte noch das Jahr 1960 sein können. Auch der Übergang zur Stallschreiberstraße könnte kontrastvoller nicht sein, was nicht als Kompliment gemeint ist. Es ist eher als ein Gefühl von Bezugslosigkeit zu beschreiben - zwei Entwicklungen die von ihrer Ideologie nicht unterschiedlicher sein könnten.

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Berlin, Feng Shui, Moritzplatz, Prinzessinengärten, Otto-Suhr-Siedlung, St.Jacobi-Kirche, © Feng Shui Center Berlin, Peter Fischer

Ganz anders die Fläche hinter der St.-Jacobi-Kirche. Die Zerstörung des Gebäudes während des Krieges ist viel weniger wahrnehmbar, es fühlt sich eher an, als würden wir hier in ein Waldstück eintreten auf dass seit der Stadtgründung nicht gebaut wurde. Gerade auf dem Grundstück hinter der Basilika herrscht eine sehr angenehme Stimmung, ein schöner Platz für TaiChi oder QiGong.

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Berlin, Feng Shui, Moritzplatz, Prinzessinengärten, Otto-Suhr-Siedlung, St.Jacobi-Kirche, © Feng Shui Center Berlin, Peter Fischer

Und dann: das Aufbau-Haus. So interessant das Gesamtkonzept auch sein mag: der Innenhof hat keine Aufenthaltsqualität, was sicherlich auch an der (noch?) mangelnden Begrünung liegen mag. Ein Blick, ein Bild, aha, wir gehen wieder, Richtung Moritzplatz, rechts ab, die Treppen hoch, immer noch im Aufbauhaus, doch, wie nennt man sowas? Ein Atrium? Ein durch eine Treppe abgeteilter Gebäuderiegel? Oder einfach nur ein Treppenhaus? Stilecht in durchgehendem Sichtbeton. Meine erste Assoziation: hier sieht´s ja aus wie im Knast! Fehlt nur, dass in den Zwischengeschoßflächen noch Netze gespannt sind, Fallschutz sozusagen, rein vorsorglich versteht sich. Der Schall hier: unerträglich, die Geräusche des Verkehrs von Prinzenstraße und Moritzplatz werden hier durch die schallharten Oberflächen gesammelt und verstärkt, nichts dämpft gerade die hohen Frequenzen des Straßenlärms. Gerade nach der Ruhe die wir hinter der St.-Jacobi-Kirche genießen durften: einfach zu viel. Jedoch: zur richtigen Tageszeit entstehen hier sicherlich hochästhetische Bilder. Sonnenuntergang auf Sichtbeton, sozusagen.

Also weiter in die Prinzessinnengärten, zu Pizza und Bier - was ausdrücklich nicht im Widerspruch zu Feng-Shui steht, sondern fester Bestandteil der Feng-Shui-Safari ist! :D

Und wieder ein Kontrast der stärker nicht seien könnte. Wo sich in der Otto-Suhr-Siedlung ebenso wie in der St.-Jacobi-Kirche die Geschichte geradezu aufdrängt: eine wunderbare Ruhe, angenehmes Stimmengemurmel im Hintergrund, gechilltes Abhängen im zarten Stadtwäldchen, angenehmes Menschen-Qi, „Ren Dao“ bei 21°C. Die Atmosphäre entsteht sicherlich auch dadurch, dass der Boden unverschlossen ist, überall Grünpflanzen, Bäume, „Urban Gardening“ eben. Wie stark abgasbelastet die Ernte hier ist oder auch nicht: spielt nicht so die Rolle. Alleine die Möglichkeit in der Erde zu buddeln, Natur zu riechen und zu genießen, über die kultivierte Rasenfläche eines Stadtparks hinaus: unbezahlbar!!!

Fazit des Spaziergangs: Nach ca. 3 Minuten war ich in Tieftrance und vollkommen eingetaucht die Wahrnehmung des Ortes. Vielen Dank an Alle die dabei waren, und wenn Du auch dabei sein willst: trag´ Dich in unseren Newsletter ein, dann wirst Du regelmäßig über diese und weitere Veranstaltungen informiert.